Die „Netzgeneration“
In diesem Kapitel wird das Konzept der „Netzgeneration“ vorgestellt und kritisch beleuchtet. Im ersten Abschnitt werden die zentralen Aussagen der Verfechterinnen und Verfechter einer „Netzgeneration“ dargelegt. Im zweiten Abschnitt wird die Kritik an diesem Konzept aufgeführt, mit dem zentralen Ergebnis, dass die Behauptung der Existenz einer „Netzgeneration“ einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält. Das Bild der „Netzgeneration“ oder sogenannter „Digitaler Eingeborener“ als Bezeichnung für die heutigen Kinder und Jugendlichen wurde zwar breit rezipiert und hat den Diskurs um neue Lern- und Lehrformen stark beeinflusst, muss in seiner verallgemeinert-pauschalen Form aber als Mythos bezeichnet werden. Ein Überblick über zentrale Ergebnisse empirischer Studien zum Medien(nutzungs)verhalten von Kindern und Jugendlichen im dritten Abschnitt liefert entsprechend ein sehr viel differenzierteres Bild. Im vierten Abschnitt wird aufgezeigt, welche Konsequenzen diese Ergebnisse für das Bildungssystem allgemein und für das Lehren und Lernen mit Technologien im Besonderen haben, jenseits der Pauschalforderungen der Propagandisten und Propagandistinnen einer „Netzgeneration“. Eine Aufzählung zentraler Erkenntnisse im fünften Abschnitt rundet das Kapitel ab.
- Das Konzept einer „Netzgeneration“ – zentrale Aussagen
- Mythos „Netzgeneration“ – zentrale Kritikpunkte am Konzept
- Ergebnisse empirischer Studien – ein weitaus differenzierteres Bild
- Konsequenzen für das Lehren und Lernen mit Technologien – Diversität unterstützen
- Zusammenfassung der zentralen Erkenntnisse
- Literatur
Das Konzept einer „Netzgeneration“ – zentrale Aussagen
Seit mehr als zehn Jahren wird von verschiedenen Autorinnen und Autoren das Konzept einer „Netzgeneration“ geprägt (zum Beispiel Tapscott, 1997; Prensky, 2001; Paloff & Pratt, 2003; Oblinger & Oblinger, 2005). Weitere greifen das Konzept im Zusammenhang mit eigenen Ausführungen zustimmend auf (für eine ausführlichere Übersicht Schulmeister, 2009, 36-37). Die Begrifflichkeiten und die Verwendung des Konzepts sind im Detail unterschiedlich, allen gemeinsam sind jedoch die folgenden Thesen:
- Die derzeit aufwachsenden Kinder und Jugendlichen haben ein weitgehend homogenes Mediennutzungsverhalten, das sich grundlegend von dem der Generationen vor ihnen unterscheidet.
- Da sie in einer Zeit aufwachsen, die von einer weiten Verbreitung und Nutzung von digitalen Technologien gekennzeichnet ist, gehen sie selbstverständlich und kompetent mit den Technologien um.
- Ihr Lernverhalten unterscheidet sich daher qualitativ von dem anderer Generationen und stellt unser gesamtes Bildungssystem vor große Herausforderungen.
Am stärksten rezipiert wurde Marc Prensky (2001), der die Thesen der „Netzgeneration“ zusätzlich mit dem plakativen Bild der ‚digitalen Eingeborenen‘ (engl. ‚digital natives‘) für die heutigen Kinder und Jugendlichen beziehungsweise den ‚digitalen Einwanderern und Einwanderinnen‘ (engl. ‚digital immigrants‘) für die – älteren – Erwachsenen belegt: Die „digitalen Eingeborenen“ bewegten sich mühelos und kompetent wie ‚Muttersprachler/innen‘ in einer digitalen Welt der Computer, Videospiele und Internettechnologien. Die ‚digitalen Einwanderer und Einwanderinnen‘ hingegen, ohne Computer und Internet aufgewachsen, würden zeitlebens „mit Akzent“ sprechen, das heißt, im Umgang mit den digitalen Technologien immer Anpassungsschwierigkeiten haben und weniger kompetent agieren. Zur Unterfütterung seines Bildes beruft Prensky sich zusätzlich auf neurobiologische Erkenntnisse, die vermeintlich ergeben hätten, dass Kinder und Jugendliche heute Informationen komplett anders verarbeiten und ihr Gehirn sich daher bereits auch physisch verändert habe.
Dieses zugegebenermaßen wirkmächtige Bild ist besonders häufig in der mediendidaktischen Diskussion als Argument genutzt worden, digitale Technologien, vor allem neue Webtechnologien, in Lehr- und Lernsettings einzuführen.
Neben den zuvor skizzierten wird das Bild der „Netzgeneration“ zudem noch mit meist positiven Zuschreibungen an die Kinder und Jugendlichen auf der psychischen und sozialen Ebene dieser Generation verbunden. Tapscott (1997) beispielsweise beschreibt die Kinder der „Netzgeneration“ als besonders neugierig und aufnahmefähig, offen gegenüber ethnischen Minoritäten und selbstbewusster als frühere Generationen. Oblinger und Oblinger (2005) heben hervor, dass diese Kinder und Jugendlichen schnelle Reaktionszeiten hätten und diese auch von anderen erwarten, stärker visuell orientiert seien, Multitasking beherrschen würden, Interaktivität und Entdeckungen beim Lernen suchen. Wiederum andere interpretieren die Konsequenzen des mediengeprägten Alltags weniger positiv und vermuten Aufmerksamkeitsstörungen und andere negative Auswirkungen (zum Beispiel Opaschowski, 1999).
Manfred Dworschak schreibt im Spiegel 31/2010: "Schulmeister, ein Experte für digitale Medien im Unterricht, muss es wissen: Er hat sich gerade durch mehr als 70 einschlägige Studien aus aller Welt geackert. Auch er kommt zu dem Schluss, dass das Internet keineswegs die Herrschaft über die Lebenswelt übernommen habe. ‚Nach wie vor machen die Medien nur einen Teil der Freizeitaktivitäten aus‘, sagt er, ‚und das Internet ist nur ein Medium unter anderen. Für Jugendliche ist es immer noch wichtiger, Freunde zu treffen oder Sport zu treiben.‘
Was ist nun dran am Bild der „Netzgeneration“? Auf welcher empirischen Basis beruht das Konzept? Deckt es sich mit den Ergebnissen aktueller Studien zum Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen? Die wissenschaftliche Debatte um den Wahrheitsgehalt des Konzepts der „Netzgeneration“ ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.
Mythos „Netzgeneration“ – zentrale Kritikpunkte am Konzept
Um das zentrale Ergebnis vorweg zu nehmen: Die ‚Netzgeneration‘ kann einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. Sie erweist sich bei genauerer Betrachtung als unzulässige, stark überzeichnete Generalisierung der Eigenschaften einzelner Subgruppen heutiger Kinder und Jugendlicher (Bennett et al., 2007). Die Kritik am Konzept der „Netzgeneration“ liegt dabei auf verschiedenen Ebenen. Im deutschsprachigen Raum hat sich Rolf Schulmeister (2009) mit einer mehrfach aktualisierten Internet-Publikation detailliert der Kritik gewidmet. Im Wesentlichen werden folgende Punkte kritisiert (für eine detailliertere Darstellung der Kritikpunkte Schulmeister, 2009):
Empirische Datengrundlage fehlt: Betrachtet man die empirische Basis der Kernaussagen des Konzepts der „Netzgeneration“, wird schnell deutlich, dass die Aussagen nicht gemäß wissenschaftlicher Standards empirisch abgesichert sind. Die Beschreibungen basieren auf Einzelbeobachtungen und anekdotischer Evidenz, nutzen also grundsätzlich nur sehr kleine Fallzahlen und beziehen sich überwiegend auf die US-amerikanische weiße Mittelschicht. Die Ergebnisse können daher in keiner Weise als repräsentativ für eine ganze Alterskohorte gesehen werden. Die Kernaussagen zur „Netzgeneration“ sind daher vielmehr unzulässige Verallgemeinerungen.
Jugendliches Mediennutzungsverhalten ist differenzierter: Betrachtet man den Mediengebrauch und die Medienkompetenz differenzierter, ergibt sich ein anderes Bild: Die vermeintlich einheitliche „Netzgeneration“ zerfällt in vielfältige Subgruppen, die ganz unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten, Kenntnisse und Kompetenzen haben. Außerdem hebt die weite allgemeine Verfügbarkeit digitaler Technologien nicht zwangsläufig soziale Unterschiede auf (siehe zum Beispiel BMBF, 2010; Livingstone & Haddon, 2009; Palfrey & Gasser, 2008). Aktuelle empirische Studien zum Medien(nutzungs)verhalten zeigen komplexere Aufteilungen und belegen Unterschiede in Zugang und Nutzungsart in Abhängigkeit von soziokulturellen Parametern (vergleiche zum Beispiel EU Kids Online, 2009; JIM-Studie, 2009; ARD/ZDF-Onlinestudie, 2009; Treumann et al., 2007). Die in repräsentativen empirischen Studien belegte Diversität des Medienhandelns, der vorhandenen Kompetenzniveaus und der Nutzungsarten wird in Abschnitt 3 skizziert.
Argumentation ist von technologischem Determinismus durchzogen: Die Verfechterinnen und Verfechter der „Netzgeneration“, insbesondere Prensky (2001), argumentieren, dass die behaupteten Formen des Medienhandelns und der Eigenschaften der Kinder und Jugendlichen der „Netzgeneration“ unmittelbar aus dem Vorhandensein der digitalen Technologien und dem selbstverständlichen Umgang damit resultieren. Hier scheint eine Argumentationsfigur des technologischen Determinismus auf: Die Technologien scheinen quasi unabhängig von den handelnden Subjekten eine Kraft und eigenmächtige Wirkung auf die Mitglieder der sogenannten „Netzgeneration“ zu entfalten. Dass Mediennutzung immer soziales Handeln ist, das von verschiedenen soziokulturellen Faktoren beeinflusst wird und in einem komplexen Zusammenspiel von Subjekt und Technologien entsteht, wird ignoriert. Damit werden alle Erkenntnisse zu Sozialisationsprozessen einerseits und zur sozialen Konstruiertheit von Technologien andererseits nicht berücksichtigt. Technologien scheinen menschliches Handeln eindimensional zu bestimmen. Dieser Determinismus steht im krassen Widerspruch zur Komplexität menschlichen Handelns allgemein und der Medienaneignung im Speziellen (auch Buckingham, 2006).
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Das Konzept der „Netzgeneration“ hat keine empirische Basis, die einer wissenschaftlichen Überprüfung standhält. Das Mediennutzungsverhalten der jüngeren Generation ist wesentlich diverser, als es das Konzept der „Netzgeneration“ nahe legt. In der Argumentation zur Begründung der „Netzgeneration“ wird die Komplexität menschlichen Handelns unzulässig reduziert: Es scheint, dass Technologien das Handeln der Menschen einseitig bestimmen könnten. Im Gegensatz dazu weiß man aber aus der Sozialisationsforschung, dass zahlreiche soziokulturelle Faktoren das Mediennutzungsverhalten beeinflussen und dass Medienhandeln immer komplexes soziales Handeln mit Technologien ist, die ihrerseits sozial konstruiert sind.
Ergebnisse empirischer Studien – ein weitaus differenzierteres Bild
Hier sollen vier neuere, repräsentative Studien herangezogen werden, um die Diversität innerhalb der Mediennutzung unter den Jüngeren zu belegen: EU Kids Online (2009), JIM-Studie (2012), ARD/ZDF-Onlinestudie (2009) und die Studie zum Medienhandeln Jugendlicher von Treumann et al. (2007). Diese Studien beleuchten unterschiedliche Aspekte zum Medienhandeln und Mediennutzungsverhalten, unterscheiden sich in Anlage und Detailzielen und entsprechend auch in den Ergebnissen. Sie belegen aber dennoch deutlich, dass das Bild der „Netzgeneration“ mit der pauschalen Vermutung eines einheitlichen und kompetenten Medienhandelns und einer ebensolchen Mediennutzung nicht aufrecht zu erhalten ist.
ARD/ZDF-Onlinestudie 2009
Die ARD/ZDF-Onlinestudie 2009 zeigt zwar, dass sich das Mediennutzungsverhalten der unter 30-Jährigen stark von dem der darüber liegenden Altersgruppen unterscheidet, aber dass die Gruppe der unter-30-Jährigen dennoch mindestens in zwei verschiedene Subgruppen zerfällt: Unter Rückgriff auf die Typologie der Mediennutzer/innen der MNT-Justierungsstudie 2006 werden die Subgruppen „Junge Wilde“ und „Zielstrebige Trendsetter“ unterschieden, deren Medienhandeln in zahlreichen Bereichen Differenzen aufweist. Diese können durch verschiedene Bedürfnis- und Interessenlagen, Bildungsniveaus und lebensweltliche Rahmenbedingungen erklärt werden (Oehmichen & Schröter 2009).
Es zeigen sich deutliche inhaltliche Unterschiede bei der Nutzung von Online-Informationsangeboten (zum Beispiel Nachrichtendienste: „Zielstrebige Trendsetter“ 51 % gegenüber „Junge Wilden“ 37%), aber auch Differenzen bei der aktiven Nutzung bestimmter Online-Anwendungen wie zum Beispiel beruflicher Netzwerke (Abb. 3).



Oehmichen und Schröter (2009, 449) fassen die Unterschiede zwischen den Gruppierungen auf der Basis der ARD/ZDF-Onlinestudie wie folgt zusammen: „Dem eher bildmedien-, spaß- und unterhaltungsorientierten Typus des Jungen Wilden steht der rationaler gestimmte, erheblich breiter interessierte MedienNutzerTyp des Zielstrebigen Trendsetters gegenüber. Zugespitzt könnte man dem eher passiv-konsumistischen Mediennutzungsstil der Jungen Wilden einen aktiveren, Mitgestaltung einschließenden Stil der Zielstrebigen Trendsetter gegenüber stellen“.

Auch die JIM-Studie zeigt im Bereich von Computer- und Internetnutzung ein differenziertes Gesamtbild: Alter, Geschlecht und Bildungsgrad führen zu Unterschieden im Nutzungsverhalten. Zum einen variiert die Ausstattung beziehungsweise der Zugang der Jugendlichen leicht je nach Bildungsniveau und Geschlecht. Unterscheidet man zum Beispiel den Hauptzweck der jugendlichen Internetnutzung, zeigen sich klare Differenzen zwischen Mädchen und Jungen: „Jungen und junge Männer verwenden jede vierte Minute im Internet auf Spiele, bei den Mädchen und jungen Frauen ist es nur jede zwölfte. Dafür fällt bei den weiblichen Internetnutzern der kommunikative Anteil der Onlinenutzung um zehn Prozentpunkte höher aus“ (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2009, 33).
EU Kids Online 2009
In der Studie EU Kids Online 2009 (Livingstone & Haddon, 2009) werden die Internetnutzung sowie die dadurch entstehenden Risiken für Kinder und Jugendliche europaweit verglichen. Hier zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, zum Beispiel in der Anzahl der Internetnutzenden unter den 6- bis 17-Jährigen (siehe Abb. 1). Zusätzlich wurden zahlreiche Ungleichheiten in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und sozioökonomischem Status festgestellt (Zimic, 2009).
Studie zum Medienhandeln Jugendlicher von Treumann et al. (2007)
Auch diese Studie zum Medienhandeln kommt zu einem ausdifferenzierten Gesamtbild: Generalisierungen auf eine ganze Alterskohorte sind nach dieser Studie ebenfalls nicht angebracht, Kompetenzen und Qualifikationen im Medienhandeln variieren erheblich. Die Studie legt das Medienkompetenzmodell von Dieter Baacke (1999) mit den Komponenten Medienkunde, Mediennutzung, Medienkritik und Mediengestaltung zugrunde, wobei die Studie sich nicht auf Computer- oder Internettechnologien beschränkt, sondern klassische wie digitale Medien einbezieht. Die Unterschiede kommen unter anderem in einer Typologie zum Ausdruck, die sieben verschiedene Typen beinhaltet. Diese unterschieden sich hinsichtlich ihrer Medienpräferenzen, ihrer Medienkompetenz in den verschiedenen Bereichen des Medienkompetenzmodells sowie ihren Nutzungsmotiven. Die Studie wählt folgende Kurzcharakterisierungen und gibt ihre prozentuale Verteilung unter den befragten Jugendlichen an: Bildungsorientierte (20,4%), Positionslose (20,3%), Konsum- (17,4%) bzw. Kommunikationsorientierte (19,1%). Allrounder/innen (12%), Deprivierte (7,8%) sowie Gestalter/innen (3,1%).
Internetnutzung von Vorschulkindern (Saferinternet.at, 2013)
Erstes, nachstehendes, Element wird ans Ende der vorherigen Seite gestellt
In Österreich nutzen 41% der Kinder zwischen 3 und 6 Jahren regelmäßig das Internet (Fotos und Videos ansehen). 52% dieser Altersgruppe waren zumindest schon einmal im Netz. Die durchschnittliche Zeit beträgt eine Stunde pro Woche (Saferinternet.at, 2013): „Die Zeit, welche die Mädchen und Buben im World Wide Web verbringen, steigt mit der Internetaffinität der Eltern. ... Die am häufigsten genutzten Geräte sind Computer bzw. Laptop (34 Prozent), Spielkonsolen (14 Prozent), Smartphones der Eltern (elf Prozent) und Tablet-Computer (sechs Prozent).
Die beliebteste Online-Aktivität ist Spielen – 34 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen tun es zumindest ab und zu, gefolgt von Fotos Ansehen (33 Prozent), Videos Ansehen (27 Prozent), Musik Hören (24 Prozent), Zeichnen (20 Prozent) und Surfen (zwölf Prozent).”
Konsequenzen für das Lehren und Lernen mit Technologien – Diversität unterstützen
Das Bild der „Netzgeneration“ wurde zahlreich als Begründung für neue Lehr- und Lernsettings mit Technologien genutzt. Was bedeutet die Erkenntnis, dass die generalisierende Annahme einer einheitlich kompetenten jüngeren Generation von Mediennutzerinnen und Mediennuntern nicht der Realität entspricht, nun für das Lernen und Lehren mit Technologien? Entfällt die Herausforderung für das Bildungssystem? Die Antwort ist eindeutig: Nein, die Herausforderung ist nur anders gelagert. Sie besteht nicht wie Prensky und andere argumentieren in der Notwendigkeit, digitale Medien in Lern- und Lehrarrangements zu integrieren, um den medienkompetenten Jugendlichen passende Lehrangebote zu machen. Sie besteht vielmehr darin, die Diversität der Kinder und Jugendlichen auch in puncto Mediennutzung anzuerkennen und die unterschiedlichen Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht, sozio-ökonomischer Status sowie Medienpräferenzen und vorhandene Medienkompetenzen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen bei der Einführung von Technologien in Unterricht und Lehre hinreichend zu berücksichtigen und so passgenaue Angebote zu entwickeln. Für Jugendliche, die von Exklusion in der Mediengesellschaft bedroht sind, gilt es zusätzlich, geeignete Fördersysteme zu entwickeln (BMBF, 2010).
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Diverse empirische Studien zum Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen belegen eine hohe Mediennutzung und ebenso einen weit verbreiteten Umgang mit verschiedenen Internetdiensten unter Kindern und Jugendlichen. Sie zeigen aber auch erhebliche Unterschiede in Nutzung und Gebrauch auf: Soziodemographische Daten wie Geschlecht, Bildungsabschluss, Einkommen beeinflussen Art und Zweck der Nutzung von Medien und speziell des Internets. Eine einheitliche „Netzgeneration“ belegen sie eindeutig nicht.
Zusammenfassung der zentralen Erkenntnisse
Abschließend noch einmal eine Zusammenfassung zentraler Erkenntnisse dieses Kapitels:
- Zahlreiche Autorinnen und Autoren behaupten, dass eine jüngere Alterskohorte existiere, deren Mediennutzungsverhalten weitgehend einheitlich und unbeeinflusst von soziodemographischen Faktoren sei und die auf einem gleichsam hohen Medienkompetenzniveau agiere („Netzgeneration” beziehungsweise „digitale Eingeborene“).
- Diese Behauptung hat keine wissenschaftlich abgesicherte empirische Basis, sie ist aber dennoch stark rezipiert worden und vor allem als Argument für die Notwendigkeit des Lernens und Lehrens mit Technologien genutzt worden.
- Jüngere repräsentative empirische Studien zum Medienhandeln Jugendlicher zeigen ein weitaus differenzierteres Bild. Medienkompetente Nutzer/innen in allen Bereichen von Medienkompetenz (Medienkunde, Nutzung, Kritik und Gestaltung) bilden bestenfalls eine Subgruppe unter vielen anderen Gruppierungen. Diese Studien zeigen weiterhin Abhängigkeiten des Medienhandelns von unterschiedlichen soziodemographischen Faktoren wie Alter, Geschlecht und sozioökonomischem Status auf.
- Die Herausforderung für das Bildungssystem besteht nicht darin, zwingend Lern- und Lehrformen mit Technologien einführen zu müssen, sondern bei ihrer Einführung die Diversität des Medienhandelns und der Kompetenzniveaus hinreichend zu berücksichtigen und entsprechende Lern- und Lehrarrangements zu gestalten, aber auch Fördersysteme bei Zugangs- oder grundsätzlichen Kompetenzproblemen zu konzipieren.
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Weiterführende Literatur und andere Lernressourcen:
- Webseite des Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest mit regelmäßigen, aktuellen empirischen Studien zum Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen http://www.mpfs.de/
- Blogeintrag zum Thema von Prof. Dr. Gabi Reinmann vom 20.09.2009 mit einer lebendigen Diskussion durch zahlreiche Kommentare: http://gabi-reinmann.de/?p=1379
- Weblog „Netgenskeptic“ in englischer Sprache mit zahlreichen aktuellen (kritischen) Beiträgen zum Konzept der Netzgeneration: http://www.netgenskeptic.com/
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Recherchieren Sie im Detail die Ergebnisse einer aktuellen empirischen Studie zum Medienhandeln von Kindern und Jugendlichen. Halten Sie stichwortartig fest,
- wie das methodische Design und die empirische Basis beschrieben werden und
- welche Differenzierungen im Medienhandeln beziehungsweise mit Blick auf die Medienkompetenz herausgearbeitet werden.
Tragen Sie Ihre Ergebnisse in einer Arbeitsgruppe zusammen und diskutieren Sie gemeinsam, welche Konsequenzen die Ergebnisse für die Gestaltung von Lern- und Lehrarrangements haben könnten. Wählen Sie dabei einen konkreten Praxiskontext aus einem Bildungsbereich, der Sie besonders interessiert
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Recherchieren Sie bei einer Publikation, die das Vorhandensein einer „Netzgeneration” propagiert, die angegebene empirische Basis sowie die Methode der Erkenntnisgewinnung. Wird ein Forschungsdesign erkennbar? Welche Fallzahlen werden genannt? Wird ein einheitliches und systematisches Vorgehen transparent ausgewiesen?
Literatur
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Baacke, D. (1999). Medienkompetenz als zentrales Operationsfeld von Projekten. In: D. Baacke (Hrsg.), Handbuch Medien, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 31-35.
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Bennett, S.; Maton, K. & Kervin, L. (2007). The "digital natives" debate: A critical review of the evidence. In: British Journal of Educational Technology, 39(5), 775-786.
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Buckingham, D. (2000). After the death of childhood. Growing up in the age of electronic media. Malden: Blackwell Publishers Inc.
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Bundesministerium für Bildung und Forschung (2010). Kompetenzen in einer digital geprägten Kultur. Medienbildung für die Persönlichkeitsentwicklung, für die gesellschaftliche Teilhabe und für die Entwicklung von ausbildungs- und Erwerbsfähigkeit. Bielefeld: W. Bertelsmann.
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Dworschak, Manfred (2010). Internet – Null Blog. In: Spiegel, 31. URL: http://www.spiegel.de/spiegel/a-709492.html [2013-08-22].
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Livingstone, S. & Haddon, L. (2009). EU Kids Online: Final report. LSE. London: EU Kids Online. (EC Safer Internet Plus Programme Deliverable D6.5), URL: http://eprints.lse.ac.uk/24372/ [2010-11-15].
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Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2009). JIM 2009. Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart: MPFS.
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